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Reportage über ein Blitzmatch mit Helmut Krausser, Feb. 1999 in der Literarischen Welt

Am Brett mit Helmut Krausser

Das Kreisen der Springer

Beide spielen wir Turniere, und gerne lässt er sich zu einigen Partien einladen ins Café Eckstein an einer Straßenecke in Berlin Prenzlauer Berg. Krausser fackelt nicht lange, prüft die Schachuhr und wir einigen uns auf fünf Minuten Bedenkzeit pro Partie und Spieler. Blitzen eben. Zeit läuft.

Das Café ist laut und voll. Helmut Krausser ist für zwei Februartage im nasskalten Berlin, sonst verbringt er das Jahr mit einem Stipendium in der Römischen Villa Massimo. Immer wieder, zuletzt im Tagebuch „Oktober“, erwähnt Helmut Krausser seine Leidenschaft für Schach. Vor Jahren hatte er während eines Berliner Opens im Zockertreff „Belmont“ Schnellschach gespielt und beim Backgammon die Einsätze hochgetrieben. „Spielgeld“ erzählt davon.

Beide spielen wir Turniere, und gerne lässt er sich zu einigen Partien einladen ins Café Eckstein an einer Straßenecke in Berlin Prenzlauer Berg: „Haben Sie aber auch die Größe, sich nicht zu rächen, wenn Sie jede Partie verloren haben werden?“

Tagebuchnotizen wie „Beim Münchener schneller Pflichtsieg“ klingen nach Selbstvertrauen. Aber Partien aus Turnieren in Bad Wörishofen, München und Berlin bezeugen, dass der Romanautor und Drehbuchschreiber kein leichtes Opfer ist. Im Gegenteil: Krausser ist stärker. Er ist erfahrener. Er hat die besseren Nerven. Ein sportliches Treffen.

„Werden Sie sich auch später nicht rächen, wenn Sie jede Partie verloren haben werden?“

Krausser fackelt nicht lange, prüft die Schachuhr und wir einigen uns auf fünf Minuten Bedenkzeit pro Partie und Spieler. Blitzen eben. Zeit läuft. Krausser wird von einer Neuköllner Königsindisch-Spezialität überrascht. Der wichtigste Bauer flockt aus der weißen Stellung. Schwarz aber übersieht einen Figurenverlust. Remis. Die Vorbereitung stimmt, aber die Nerven nicht.

„Werden Sie sich auch später nicht rächen, wenn Sie jede Partie verloren haben werden?“

Schachspielen wird schnell ernst, die Partien verlaufen grausam und ereignisreich: Material wird schnell geopfert und man spielt verstümmelte Stellungen weiter, in der Hoffnung, die Eile könnte zu Fehlern verleiten, und das geschieht sehr oft. Grünfeld-Variante: Wie ein Reißverschluss öffnet das weiße Bauernzentrum die schwarze Position. Im Konter des Schwarzen raubt eine Zickzackkombination der Dame einen ahnungslosen Springer. Fette Beute, und Schwarz kann sich mit ewigem Schach ins Remis retten.

Poetry-Slam und Kickern gehören eindeutig zusammen

Das Herz hüpft mit. Die meisten Weltmeister trainierten ihre Kondition mit Tennis, Langlauf oder Radfahren. Krausser ist jedoch auch nicht in bester Verfassung: Drei lange Tage und Nächte ist er schon unterwegs, morgen geht es zurück nach Rom. In der Villa Massimo, drei Metrostationen vom Zentralbahnhof Termini entfernt, beschäftigen Krausser zunächst zwei Dinge: Tischfußball und Frascati. „Weißwein passt ganz gut“, meint der 34-Jährige und rührt im Tee. „Roter macht einen dicken Kopf, und Kickern strengt an.“ Gekickert wird mit bildenden Künstlern, die es indes schwer haben dürften, wenn Krausser sich mit Andreas Neumeister verbünden sollte. Auch Neumeister ist Münchner und Stipendiat in Rom, doch vor allem ist er Slammer. Poetry-Slam und Kickern gehören eindeutig zusammen. Rowohlt-Lektor Marcel Hartges kickert auch ganz gut, aber er hat ja auch gemeinsam mit Neumeister ein Slam-Kompendium herausgegeben – und Krausser in der Villa Massimo besucht. Ein schwerer Brocken für die bildenden Künstler.

Auch wenn sich die lässige Haltung leicht wie eine unkonventionelle Pose ausnimmt, kokettiert der Schriftsteller nicht mit einer rebellischen Attitüde gegen das Bürgertum – vielmehr wendet er sich gegen Anti-Bürgerlichkeit: „Wir sind doch alle Bürger. Und ich bin verheiratet, lebe in einem Reihenhaus, beziehe ein regelmäßiges Einkommen und sammle Münzen. Vielleicht ist es das, was mich in die Nähe des Bürgerlichen rückt. Was mich aber stört, ist aggressive Anti-Bürgerlichkeit.“

Am Brett vergisst Krausser einmal mehr die Zentralbauern. „Meine Güte! Was spiele ich denn hier?“ Schwarze Springer kreisen über weiße Stellungslöcher. Aufgabe. In den Tagebüchern belächelt Krausser eine weiße Spielidee, Weiß probiert spaßeshalber eine zweite, die genauso schrullig aussieht. Schwarz fühlt sich ins Moor gezogen. Noch zwei Minuten. Die weißen Figuren sind auf Sprengung positioniert. Eine Minute. Mit einem Springerschach schnappt der Zünder, Schwarz gibt auf. Ein Drama ohne Tragik.

„Film ist Mannschaftsarbeit. Und bislang war es so, dass ich mein Werk am liebsten selbst vertreten habe.“

Zigaretten glimmen, und Krausser zupft sich petrolblaue Hemd unter dem Jackett zurecht und erzählt zurückgelehnt von der Vorfreude auf den römischen März und die Magnolienblüte, die ihn dieser Tage erwartet. In Berlin ist er nur kurz, um ein Drehbuch mit Tom Tykwer zu besprechen. Gegenwärtig ist Jan Schüttes „Fette Welt“ in den Kinos zu sehen. Der Film bezieht sich zwar auf seinen Roman, doch hat Krausser nicht am Drehbuch mitgewirkt. Schütte zeigt die Welt der Obdachlosen unter der Münchner Wittelsbacher Brücke und versucht, Landstreicher nicht so zu zeigen, wie man annimmt, dass sie ausschauen. Die Schauspieler sollten sich selbst spielen. „Mit ihrer eigenen Biographie, aber eben so, als ob sie auf der Straße leben.“

Krausser mag die Leinwandfassung zwar, doch „Film ist Mannschaftsarbeit. Und bislang war es so, dass ich mein Werk am liebsten selbst vertreten habe.“ Der Appetit kam jedoch beim Essen, und schon feilt er an einer Filmarbeit über Puccinis Liebschaften. „Vielleicht ein bisschen mit Ivory vergleichbar, nur nicht so aseptisch, eben deftiger.“ Eine paradoxe Träumerei: Krausser als Drehbuchautor zu Filmen von James Francis Ivory: „Zimmer mit Aussicht“ und „Howard’s End“. Nur eben deftiger. Schließlich wird noch an einer Verfilmung von „Der große Bagarozy“ gearbeitet. Ein Stoff, wie geschaffen für das Kino: Der Teufel sucht in Gestalt eines Besessenen eine Psychiaterin auf. Seine Obsession hat einen Namen: Maria Callas. Zwischen Vorstadt-Idylle und Mittelstandshölle ereignen sich makabre Todesfälle.

Krausser lässt Remis gelten. Auch wenn er besser stand

Die Hybris: Schwarz nimmt die Partie nicht ernst und ist zu viele Punkte im Vorsprung. Zumal Sizilianisch auf dem Brett ist. Obschon es die Lieblingseröffnung für viele Jahre war, spielt Schwarz miserabel: zu offen, zu ungenau, zu passiv. Krausser bekommt die offenen Linien, die er braucht. Schwarz verschenkt einen Bauern und die Initiative und hat außerdem viel weniger Zeit. Wie ein Laserstrahl sengt der Läufer ins schwarze Lager. Aufgabe. Gleich danach noch einmal Sizilianisch, jetzt spielt Krausser mit den schwarzen Figuren und kommt sehr schnell in Vorteil, lässt aber seine Bauern im Regen stehen. Im Endspiel bleiben uns nur wenige Sekunden. Krausser lässt Remis gelten. Auch wenn er besser stand.

Schachromane? Lushin nicht, Zweig auch nicht

Nach zwei Stunden gleicht der Schriftsteller den Rückstand aus. Es habe ihn zwar gereizt, mehr über Schach zu schreiben. Über den Weltmeisterschaftskampf zwischen Anatoli Karpow und Garri Kasparow 1987 in Sevilla zum Beispiel, doch blieb es bei der Idee. Auch wollte er keinen Schachroman schreiben: „Man müsste zu viel voraussetzen, um ihn zu begreifen. Das Publikum dafür ist zu begrenzt. Vorbilder aus der Weltliteratur scheinen ihn nicht zu überzeugen: Arrabals „Hohe Türme trifft der Blitz“ mag er nicht, und an „Lushins Verteidigung“ von Nabokov lässt Krausser kein gutes Haar. Unvermeidlich, ihn auf Zweigs „Schachnovelle“ anzusprechen, doch der Schriftsteller bleibt stumm und schüttelt nur höflich den Kopf. Filme hätten es schon leichter, und Bruno Ganz habe in „Schwarz und Weiß wie Tage und Nächte“ den Psychopathen ganz gut gegeben.

Eben ließ Krausser die Springer tanzen. Gegen die überlegenen, aber schwerfälligen Türme ließ das Springerrudel keine Finte aus. Zum Schluss kassiert das letzte Pferdchen beide Türme. Er selbst zeigt nach der Partie, wie der Springerschwindel widerlegt werden musste. In der folgenden Partie jagt er den nackten König. Beiden Spielern bleiben nur Sekunden. Sein Bauer rast auf die Grundlinie zu. Die lange Diagonale übers Brett zum Drücken der Uhr wird ihm zum Verhängnis, er braucht zu lange, drei Züge vor dem Matt läuft seine Bedenkzeit ab. Zwei Punkte im Rückstand möchte Krausser es noch einmal wissen und mit den letzten beiden Partien aufholen. Das erste Spiel wird remis, das letzte aber beginnt schon grausam und belässt es nicht beim sublimierten Schlachten. Beide Stellungen stehen in Trümmern, doch die schwarze Dame erreicht die feindliche Stellung zuerst und zieht einen Pestkarren hinter sich her. Übermütig zupft Schwarz der paralysierten weißen Position die Beine und die Glieder aus und verzögert das Matt. Doch die weiße Stellung lebt und ein Hornissenstich in die schwarze Königsstellung setzt sofort Matt. Krausser kann sein Glück nicht fassen – „das war Absicht!“, doch Überheblichkeit verdient nichts Besseres.

Draußen regnet es, die Schachuhr tickt nicht mehr, und am frühen Morgen geht es zurück nach Rom. Sein halber Punkt Rückstand zählt nicht viel beim Blitzen, der Puls sinkt aufs Normalmaß. „Ich kann gar nicht verstehen, warum man das Schachspiel als langweiliges Thema abkanzelt“, sagt Krausser zum Abschied. In Rom hat er noch keine guten Clubspieler entdeckt, andererseits ist er mit Filmprojekten und dem Tagebuch beschäftigt – doch wozu Schachspielen, wenn man auch kickern kann?“


Erschienen am 29. Februar 1999 in der “Literarischen Welt”, der Literaturbeilage der Tageszeitung DIE WELT.

One Response to Am Brett mit Helmut Krausser

  1. Eine Korrektur musste sein: Sevilla 1987 – das Match mit Lxf7 im Grünfeldinder.

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