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Über Fokussierung

Von den Eigenschaften, die gute Schachspieler ausmachen, wird eine Fähigkeit häufig vernachlässigt. Die Gabe, sich auf eine Sache oder Handlung zu fokussieren, ist wesentlich.

Inzwischen ist Atila erwachsen, aber ich weiß noch, wie ich ihn als Kind beim Schachclub Kreuzberg kennenlernte. Lutz und ich schauten uns eine Benoni-Königsindisch-Stellung an, das ging alles sehr informell vor sich, mit viel Geplapper und Scherzen. Plötzlich drehte sich Lutz um und winkte Atila heran, damals ein zarter und zurückhaltender Junge. “Atila! Was meinst du zu der Stellung?”, fragte Lutz, und als sei er im Sportunterricht beim Mannschaften-Wählen aufgerufen worden, zeigte er überrascht auf sich und schaute uns fragend an. “Ja!”, rief Lutz. “Was meinst du? Kann Schwarz so spielen?”

Wir waren wie gesagt in ausgelassener Laune. Wir machten dem Zehnjährigen Platz. Zögernd setzte sich Atila ans Brett, fragte noch kurz, wer am Zug sei, und ich wurde Zeuge, wie der Junge vor den Figuren zusehends versteinerte. Es war spät, doch der Tresenlärm, das Geplapper um uns herum, das alles spielte plötzlich keine Rolle mehr, und Atila nahm seine Hände und legte sie nachdenklich auf die Stirn und versank immer tiefer in die Stellung.

Lutz und ich geduldeten uns. Er hatte mich nicht vorgewarnt und es sah so aus, als warte er einfach heimlich amüsiert ab, bis Atila wieder aus der Versenkung auftauchen werde. Also tat ich es ihm gleich und versuchte auch meinerseits, noch etwas in der Stellung zu entdecken. Atila war beschäftigt und ab und an kamen andere Spieler an den Tisch, von der Stille und Konzentration am trubeligen Spielabend angelockt. Irgendwann drehte Atila den Kopf und sah Lutz an, dann mich und sagte etwas so erschreckend Vernünftiges wie “Ich hätte lieber Weiß, aber ich glaube, Schwarz kann so spielen.”

Ich war beeindruckt, und ich weiß noch, wie stolz ich war, als mir im nächsten Jahr bei der Vereinsmeisterschaft ein Remis gegen ihn gelang.

Die fünf Superkräfte

 

Was sind Eigenschaften, die sehr gute Schachspieler mitbringen? Die meisten würden jetzt wohl ein gutes Gedächtnis nennen. Guter Punkt. Was noch? Das Visualisieren ist ebenfalls wichtig, stimmt. Dann ist da noch die Selbstkontrolle und Disziplin. Schließlich sind die meisten von uns nicht als Baby in den Zaubertrank gefallen. Auch natürliches Talent muss gefördert werden, damit es sich zur Meisterschaft entwickeln kann. Schließlich die Neugier, auf die unter keinen Umständen verzichtet werden kann. Wie ein Motor treibt sie das Tempo der Entwicklung an.

  • Gedächtnis
  • Visualisierung
  • Selbstkontrolle
  • Disziplin
  • Neugier

Die Fähigkeit zur Fokussierung, und ebenso die Disziplin, wird von den meisten unterschätzt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Disziplin-Apostel und predige auch nicht die eisernen Regeln der Selbstkontrolle, ganz sicher nicht. Um aber wirklich weiterzukommen, ist Disziplin notwendig. Bestimmte Ziele sind ohne Zielgerichtetheit nur schwer oder gar nicht zu erreichen. Und: Wir machen es uns mühevoller ohne sie. Beim Schach, in der Forschung, in der Kunst, im Handwerk. Auf was trifft die These nicht zu?

Die Fähigkeit zur Fokussierung aber geht mit einem Maß an Selbstkontrolle einher. Sehr gute Spieler sind einfach besser darin, sich auf eine Sache zu konzentrieren, wenn die Konzentration es erfordert. Oder es wird schwieriger für uns, diesen Zustand überhaupt zu erlernen. Es wird immer leichter, sich abzulenken. Nicht nur durch Twitter und Handy, nicht nur durch Informationsüberflut und allgemeine Gleichzeitigkeit der Ereignisse.

Einmal hatte ich ein Gespräch mit einem Musiker über dessen neues Album geführt in einem schönen Café in Berlin-Mitte. Wir setzen uns an den Tresen direkt neben die Espressomaschine, die ab und an aufzischte wie eine monströse Dampflok. Der Saxophonist, der Lautstärken gewohnt war, hob einfach nur seine Stimme so weit, bis sie über das Extremzischen reichte und kniff nur andeutungsweise die Augen zusammen und redete einfach weiter. Er blieb fokussiert.

Wenn ich als Schachspieler merke, dass ich etwas lernen muss, sagen wir, eine bestimmte Verteidigung im Endspiel Läufer gegen Turm, dann kann setze ich mich dran. Idealerweise. Wie durch Zauberei ist es aber manchmal so, dass mir ganz zufällig noch etwas einfällt, was ich vorher erledigen muss. Die neuen Partien von The Week in Chess sind da. Toll! Gleich mal anschauen!

Und wissen Sie was? Damit lenke ich mich selbst ab, und ich kann nicht sagen, ob absichtlich oder nicht. Wenn das vorkommt, dann weiß ich: Etwas in mir sträubt sich dagegen, mir endlich die Dinge anzuschauen, in denen ich die größten Defizite habe.

Da sind wir wieder bei der Disziplin. Ich will nicht auf die Ursachen der Ausweichmanöver eingehen. Wichtig ist, dass mehr Fokussierung und auch etwas mehr Beharrlichkeit helfen würden, die angestrebten Ziele zu erreichen. Der Schachvideoproduzent Louis Stringer hatte neulich eine Umfrage via Twitter herumgeschickt.

Ich bleibe dabei: Man muss sich nicht in ein Arbeitstier verwandeln, um zu lernen, die Dinge anzupacken, die getan werden müssen. Wichtig ist aber, die Wichtigkeit der Qualitäten zu erkennen, die es bedarf, um Ziele zu erreichen. Ein gewisses Maß an Selbstkontrolle und die Fähigkeit zur Fokussierung sind Eigenschaften, die leicht in Vergessenheit geraten, wenn wir unsere Möglichkeiten und Talente im Schach beurteilen.

Ich habe einen vierjährigen Schüler, der zwar noch keine vollständige Schachpartie spielen kann, aber er kann eine halbe Stunde am Stück aufmerksam sein. In seinem Alter sind es durchschnittlich acht bis zehn Minuten. Ich reize es nicht aus und achte auf Pausen. Diese Fähigkeit aber beeindruckt mich. Es wird mich freuen, wenn das Schach ihm dazu verhelfen wird, diese besondere Eigenschaft zu wahren und nach Möglichkeit auszubauen. Wir beschäftigen uns mit geometrischen Spielen auf dem Brett, üben das Eröffnen und nach der Covid-Krise findet er hoffentlich Gelegenheit, in einer Kindergruppe auf Gleichaltrige zu stoßen. Ich bin gespannt, wie das mit seiner Visualisierungsfähigkeit aussehen wird, wenn er mit komplexeren Situationen am Brett zu tun haben wird. Das Fokussieren gehört nicht zu seinen Hindernissen.

 

Plädoyer fürs Buch

Tal, Petrosian, Spassky and Korchnoi, A Chess Multibiography with 207 Games

Immer wieder treffe ich auf Schachspieler, denen es schwerfällt, eine halbe Stunde mit einem Buch zu arbeiten. Wer weiß, ob das Arbeiten mit Büchern in zwanzig Jahren noch relevant sein wird. Christoph Sielecki sagt ja immer wieder, er halte Bücher nicht so geeignet fürs Schachstudium wie die Arbeit am Bildschirm. Er selbst hat erfolgreiche Bücher geschrieben, aber es lohne sich für ihn kaum, sagt er. Er produziert jetzt immer mehr Inhalte für elektronische Medien, also für Chessable.

Wenn ich mich mit einem Buch ans Brett setze, schaffe ich weniger als mit dem Computer. Ich glaube aber, dass das so erarbeitete anders im eigenen Verstand verankert bleibt als Varianten, die in beachtlicher Menge und in größerer Geschwindigkeit am Computer nachvollzogen werden. Allerdings hat er selbst als Internationaler Meister, erfahrener Spieler und Autor dieser Werke am Brett beim Banterblitz häufiger Schwierigkeiten, die Details aus dem Gedächtnis abzurufen. Wie sieht es bei Ihnen aus?

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