"Schach"-Fragen 2016/12
Im Jahr 2016 hat mich die Zeitschrift „Schach“ gebeten, ihren Fragebogen zu beantworten, der als regelmäßige Rubrik in dem Magazin erscheint. Anlass war der neue Posten bei Chessbase.
Fernando Offermann, geboren 1967 in Buenos Aires und aufgewachsen in Ratzeburg, Lehmrade, Lübeck und Berlin, hat im November die Gesamtkoordination der ChessBase Nachrichten in deutscher, englischer und spanischer Sprache in Hamburg übernommen. Anfang der Neunziger war er einer der ersten Online-Redakteure Deutschlands und hat sich seitdem bei Tageszeitungen auf den Nachrichtenjournalismus und die Themenschwerpunkte Internet-Wirtschaft und Kultur spezialisiert. Er fotografiert leidenschaftlich gern und spielt am liebsten Blitzschach mit Freunden in der Kneipe.
1. Wo möchten Sie im Moment gerne sein?
In der Redaktionsstube von Rudolf Teschner im Jahr 1985, der in Berlin die „Deutsche Schachzeitung“ gemacht hatte. Ich würde ihm dabei zuschauen, wie er das Magazin redaktionell leitet und an den Texten arbeitet. So ein Satz wie „Tal fackelt nicht lange“ im Kommentar macht Teschner für mich unverwechselbar. Er war nicht laut, seine Texte auch nicht. Aber ich mochte seine Arbeit. Die von ihm herausgegebenen Reclam-Bände mit den Meisterpartien vermitteln seinen Stil recht gut.
2. Was würden Sie tun, wenn es ab morgen absolut kein Schach mehr in Ihrem Leben geben würde?
Das hatte ich bereits. Nachdem die Kinder ins Haus kamen, hörte ich mit der Oberliga auf und widmete mich fortan nur noch der Fotografie. Die Ergebnisse dieser Leidenschaft kann ich besser mit der Familie teilen, Fotografie ist mein Tagebuch. Ich vertiefe mich gern in die Materie, für beides zusammen blieb jedoch nicht mehr genug Zeit – das Schachspiel musste weichen. Die erste Oberliga-Saison nach dem Berliner Meistertitel verlief noch ganz ordentlich, doch im folgenden Jahr zeigte sich das fehlende Training. Zwei Jahre später hatte mich Rainer Polzin wieder reaktiviert. Mit einem Mal liegen wieder überall Schachbücher herum.
3. Was halten Sie für die schädlichste und die beste Entwicklung im modernen Schach?
Schade ist, dass viele das Analysieren verlernt haben. Erfreulich ist die Fülle an verfügbarem Material. Da gerade mit Deep Mind die Ära der Computergeneration anbricht, die jetzt auch mit der Funktion „Erinnerung“ operiert, werden Menschen bald neuen Situationen begegnen, um es einmal wertfrei zu formulieren.
4. Wer ist Ihrer Meinung nach die a) am meisten über- und die b) am meisten unterbewertete Persönlichkeit der Schachgeschichte?
Zu a): Überbewertete Personen nenne ich nur unter Zwang.
Zu b): Am meisten unterbewertet eher nicht, aber Anreger wie Andrej Lukin – um nur einen zu nehmen – sind in der allgemeinen Wahrnehmung wohl eher unterrepräsentiert.
5. Mit welchen Klischees über Schachspieler sehen Sie sich konfrontiert und wie kommentieren Sie diese?
Bei jenen, die das Schach eher vom Hörensagen kennen, aber selbst schnell mit Meinungen präsent sind, hört man oft, Schachspieler seien einseitig orientiert, solipsistisch, verklemmt, kommunikationsgestört, sozial unterentwickelt einerseits, chauvinistisch und arrogant andererseits. Zum Glück haben insbesondere die Spieler der jungen Generation dem etwas entgegenzusetzen.
Außerdem glaube ich gern, dass Schach dabei helfe, schwierige Situationen des Lebens zielorientiert und strategisch zu meistern. Dazu gehört aber wahrscheinlich auch, dass man auch am Brett gelernt hat, zielorientiert zu handeln. Im Leben spiegelt sich diese Verbindung nicht immer wieder. Karpow sagte, wenn das Schach ihm etwas beigebracht hätte, dann die Objektivität.
6. Mit welchen Vorurteilen über Ihr Schach oder Ihre Person würden Sie gern aufräumen?
Die Vorurteile über mein Schach sollen gern bleiben. Je mehr Spieler sich auf diese Vorurteile verlassen, desto besser für mich. Doch möchte ich die Gelegenheit zum Aufräumen nutzen – denn wenn es auch schon andernorts behauptet wurde: ich kann nicht flüssig Spanisch sprechen oder schreiben.
7. Welche Themen möchten Sie in der Schachöffentlichkeit/Schachpresse stärker behandelt wissen?
Schach als Sport mit Ergebnisorientierung wird vielerorts medial vermittelt. Schach als Leidenschaft hingegen? Müsste man mal nachschauen.
8. Was möchten Sie in Ihrem Leben unbedingt noch erlernen bzw. bedauern, es nie erlernt zu haben?
Ich muss mein Spanisch wiederbeleben, würde gern Russisch können, einen Führerschein machen und ich bedaure, in der Schule kein Latein gelernt zu haben.
9. Was ist Ihnen peinlich?
Berliner Einzelmeisterschaft 2013, letzte Runde. Großmeister Jakob Meister inszeniert einen Überfall und verliert dabei früh die Dame für Turm und Figur. Ich hatte aus Gründen in der Nacht zuvor nicht geschlafen und verlor die Partie sogar noch. Nach der Partie sagte er: „Gegen einen guten Spieler hätte ich diese Partie verloren.“
10. Was gefällt Ihnen an sich und was missfällt Ihnen an sich?
Ich langweile mich kaum, treibe aber auch keinen Sport.
11. Welchen Missstand würden Sie in Ihrem Land beseitigen, wenn es in Ihrer Macht stünde?
Die allgemeine Entfremdung vom eigenen Leben und der Umwelt. Ebenso die Verteilung des Wohlstandes. Doch verglichen mit den Zuständen in anderen Ländern ist es hierzulande damit nicht ganz so schlimm bestellt. Wenn ich noch Wünsche frei hätte, würde ich mir die Kirchenglocke in der Nachbarschaft vorknöpfen, die selbst an Sonntagen zur Frühmesse ruft und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich für meinen Geschmack mehr an der BBC, an Radio France und ESPN orientieren könnte als an hiesigen Privatsendern. Bei Kika läuft teilweise auch viel Fragwürdiges.
12. Wer sind Ihre Helden in der Gegenwart?
Die meisten bleiben unbeachtet, zum Beispiel die Kindergärtner oder das Pflegepersonal. Aber auch die vielen Ehrenamtlichen des öffentlichen Lebens. Da fällt mir vor allem Werner Windmüller ein, der bis vor nicht allzu langer Zeit noch Vorsitzender des Schachclubs Berolina Mitte gewesen ist und nach fast sechzig Jahren diese Aufgaben weitergegeben hat. Zwei Jahre nach Stalins Tod begann er seine Arbeit im Jahr 1955 als Vereinsvorsitzender! Mit 77 Jahren erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande, zu seinem Achtzigsten schenkte ihm der Club ein Notebook.
13. Welche Frage würden Sie gerne gestellt bekommen und wie lautet die Antwort darauf?
Wo genau westlich der Alster können wir Ihnen denn Wohnungen anbieten? Gern in Ottensen oder Altona.
14. Welche drei Bücher können Sie empfehlen?
Aktuelle Schachbücher: „Your Kingdom for My Horse“ von Andrew Soltis. Ein Buch über das Thema Figurentausch. „Attacking for Club Players“ von Herman Grooten, weil es ein Leben nach dem Eröffnungsvorteil gibt und „Pump Up Your Rating“ von Axel Smith, um sich mal von der Engine zu lösen.
Andere Bücher: „Gewaltfreie Kommunikation“, „Die feinen Unterschiede“ und „Tender is the Night“.
15. Welches ist die interessanteste Schachpartie, die Sie je gespielt haben?
Eine Simultan-Partie gegen Viktor Kortschnoj in Potsdam vor 15 Jahren. Sehr konkret. Nach meinem 17. Zug – h7-h5 in einer Sämisch/Benoni-Stellung – blickte er mich erstmals an. Mit einem lakonisch-bestimmten „Okay“ brach er thematisch im Zentrum durch, seine Stellung verschlechterte sich jedoch und er spielte am Abgrund, bis mich ein Folgezug in einer konkreten Abwicklung überforderte (leider entschied ich mich zu 24…Lg7xc3?!, statt 24…h5-h4 mit bequemen Vorteil zu spielen). Trotz Niederlage ist mir dies eine wunderbare Erinnerung geblieben.
16. Welche Spieler würden Sie zu einem Turnier einladen und nach welchem Modus würde dieses ausgerichtet werden, wenn ein Sponsor Sie mit der Ausrichtung eines Turniers beauftragen würde?
Ein Turnier im klassischen Wijk-Modus mit einem ungewöhnlich hohem Preisgeld für die stärksten Spieler Deutschlands, nur für Kameras und einige eingeladene Zuschauer, inszeniert zum Beispiel in einem Club hoch oben über den Dächern Berlins – der Sinquefield Cup funktioniert ja so ähnlich. Hamburg kenne ich noch nicht so gut, aber allein schon dieser Hafen und die Außenalster! Da sollte sich doch ebenfalls etwas machen lassen.
17. Auf welche eigene Leistung sind Sie besonders stolz und warum?
Meine Frau und ich ziehen zwei Mädchen groß. Es ist auch die Leistung der Kinder, aber wenn die manchmal auf der Straße vor uns herlaufen oder im Stillen mit uns ins Plaudern kommen, freut es mich immer wieder, dass alles so gekommen ist.
18. Mit wem würden Sie gern einen Tag lang tauschen und warum?
Mit einem Fotografen bei einer Konzertreise der Berliner Philharmoniker.
19. Wann haben Sie zum letzten Mal etwas zum ersten Mal getan und was?
In diesem Jahr habe ich erstmals Kirschbäume beschnitten und kurz darauf auf Daniel Kings Anregung hin als Langzeit-Königsinder einmal Aljechins Version des orthodoxen Damengambits mit …a6 ausprobiert. Lief ganz gut.
20. Aktuelle Frage: Bitte umreißen Sie kurz Ihre Pläne für die inhaltliche Ausrichtung der Nachrichtenseite(n) von Chessbase! Welche Veränderungen wird es geben?
Ich werde auf die bisherige Arbeit meiner Kollegen aufbauen. Neu ist, dass wir fortan die drei sprachlich getrennten Portale zentral koordinieren, was vor allem das Redaktionsmanagement betrifft. Wir wollen Freiräume erschließen für Aspekte des Schachspiels, die über den Ergebnisbericht hinausgehen. Doch auch das Genre Berichterstattung schreitet ständig voran. Das Unternehmen hat sich seit dreißig Jahren immer wieder neu definiert, und diese Fähigkeit, eine Marke zu entwickeln, wollen wir auch mit unserem Nachrichtenportal demonstrieren. Solche Entwicklungen geschehen nicht über Nacht, aber das ist unser Ziel.