Jan Timman: Curaçao 1962
Jan Timman: Curaçao 1962 The Battle of Minds that Shook the Chess Word – A fresh look at the games of the legendary Candidates Tournament New in Chess, 216 S., Paperback im Großformat, Alkmaar 2005 |
Jan Timman: Curaçao 1962 |
In einem der härtesten Turniere aller Zeiten kämpften acht der besten Großmeister der Nachkriegsära um das Recht eines WM-Matches mit Weltmeister Michail Botwinnik. Sie trafen sich mitten im Kalten Krieg unter der heißen karibischen Sonne, um 28 Runden miteinander auszutragen. Petrosjan gewann das Turnier und danach auch das Match mit Botwinnik, Keres wurde zweiter, gemeinsam mit Geller. Der 19-jährige Fischer beendete das Turnier vorzeitig, ebenso wie Tal, der aus Krankheitsgründen ausscheiden musste. Benkö landete nur knapp hinter Kortschnoj, der das Turnier zu Beginn dominierte, und der Jugoslawe Filip schließlich hatte insgesamt kaum eine Chance, auch wenn er häufig gut stand.
In der kurzlebigen Gegenwart kommt guten Büchern über die Vergangenheit eine besondere Bedeutung zu, denn es ist nicht unbedingt Standard, dass sich Schachspieler mit der Geschichte befassen. Wir alle kennen Viktor Kortschnoj, Michail Tal und Bobby Fischer, doch nicht jeder kennt den Weg, den diese Spieler im Zuge ihrer Entwicklung beschreiten mussten, geschweige ihre Partien.
Nun war dieses Turnier nicht irgendein Top-Turnier wie Linares 2004, sondern es war das Turnier jener Ära. Tal hatte die Chance auf ein Comeback und erlitt eine Tragödie, auch wenn er heroisch um jede Gelegenheit kämpfte, sich am eigenen Schopf aus der Misere zu ziehen. Fischer erkannte, dass er die Weltelite noch nicht in die Tasche stecken konnte. Geller war ganz auf der Höhe, Kortschnoj scheiterte am eigenen Optimismus und Keres hatte die letzte Chance um Haaresbreite verpasst, endlich Botwinnik herauszufordern.
Das Kandidatenturnier in Curaçao war das letzte Turnier dieser Art und sollte alsbald den anderen Kandidatenmatches weichen. Gleich nach dem Turnier beschwerte sich der Teenager Fischer in Magazin-Artikeln über den Nichtangriffspakt von Petrosjan, Geller und Keres. Die Sowjets hätten ein abgekatertes Spiel betrieben, hieß es da, und heute weiß man, dass er wohl Recht hatte. Ein Blick auf die Turniertabelle könnte schon genügen: Petrosjan-Geller: viermal Remis. Petrosjan-Keres: viermal Remis. Auch Geller-Keres bietet keine weitere Überraschung. Das sparte Kräfte und ärgerte die Konkurrenz, die in schweren Kämpfen und den Hängepartien Nerven lassen musste, während der Dreierbund fröhlich mit den Frauen am Pool saß und mit Eiswürfeln klimperte. Zwar wurde Fischers Forderung nach Abschaffung dieser Art Turniere Folge geleistet, aber ironischerweise wartete Fischer weitere sechs Jahre, bis er sich entschloss, am Kandidatenzyklus teilzunehmen. Im Herbst dieses Jahres soll in Argentinien ein ähnliches Turnier ausgetragen werden. Die Fide will den Gewinner dabei aber zum Weltmeister erklären, doch Wladimir Kramnik hat natürlich Einwände.
Jan Timman hat ein ordentliches Turnierbuch verfasst. Es ist nicht so hervorragend wie Bronsteins Buch über Zürich 1953, aber es ist vergleichbar mit Zagreb/Belgrad 1959 von Gligoric, und es ist besser als die meisten anderen Turnierbücher, die man sonst zu lesen bekommt. Gern nimmt man das großformatige, hübsch gestaltete Werk in die Hand und ist sofort dabei, all die interessanten Momente wieder aufleben zu lassen. Wunderbare Fotos aus dem Archiv des Prinz Bernhard Kulturfonds der Niederländischen Antillen heben das Werk noch weiter hervor und eigentlich ist Timman genau der Richtige für diese Arbeit.
Nicht nur ist er ein geschätzter Kommentator, seit er damals mit Euwe als junger Kerl das WM-Match 1972 in Reykjavik in einem Buch kommentierte. Timman kannte so ziemlich jeden aus diesem Turnier und ist immer wieder Gast in Curaçao gewesen. Wer, wenn nicht er sollte ein Turnierbuch über dieses wichtige Ereignis schreiben?
Raj Tischbierek hatte zuletzt in seinem Magazin „Schach“ damit begonnen, die Geschichte von Curaçao neu zu beleuchten. Ausgehend von Fischers Anklagen regte der Großmeister an, die Gerüchte um die Absprachen endlich einmal aufzudecken, so lange die Zeitzeugen wie Benkö und Kortschnoj noch leben. Vor diesem Hintergrund wird die Redaktion „Schach“ sicherlich etwas enttäuscht sein, wenn sie dieses Turnierbuch in den Händen halten wird.
Timman hat kein wissenschaftliches Werk geschrieben. Er hat nicht die Zeitzeugen befragt, sondern die Quellen studiert, dabei auch die Interviews seiner eigenen Zeitschrift „New in Chess“. Er zitiert aus den Büchern von Tal, Fischer und erläutert die Kommentare anderer Quellen: von den alten Turnierbüchern über die Kommentare von Boleslawski und Wasjukow bis hin zu Kasparows Werken über die Weltmeister. Er hat auch keine historischen Entdeckungen zu präsentieren im Sinne von: „Keres nun Betrüger statt Gentleman“ oder „Enthüllt: Kortschnoj viertes Mitglied der Dreierbande!“. Timman ist kein Forscher, er ist Autor, und sein Ergebnis ist gelungen.
Dem Werk gelingt es nämlich, die Bedeutung des Turniers hervorzuheben. Vor allem den jungen Spatzen, die noch nichts kennen, hilft er damit um vieles weiter. Die Vorgeschichten sowohl der Spieler als auch der Partien werden erklärt und eingeordnet, und immer wieder erläutert Timman, warum manchen besonderen Momenten diese oder jene dramatische Bedeutung zukommt.
Manchmal fällt ein Wort über eine mögliche geschobene Partie. An anderer Stelle erklärt Timman, wie dreckig es Tal zu dem Zeitpunkt ging, als er sich nicht zwischen zwei guten Fortsetzungen entscheiden konnte und schließlich verlor, weil er sich schließlich für einen dritten, inkonsistenten Zug entschied. Seine beiden ersten Züge wurden später von anderen Meistern gespielt, die damit auch gewannen. Timman berichtet auch vom Zeitnotdrama Keres-Benkö, als dieser in horrender Zeitnot im 39. Zug eine Figur umwarf und Keres fies auf die Uhr schlug und Benkö dann auf Zeit verlor. Aber vor allem berichtet Timman auch etwas von dem ganzen Drumherum. Benkö war natürlich von Keres enttäuscht und schwor, die nächste Partie gegen Keres zu gewinnen, und so kam es dann auch. Indessen bleibt Timman manchmal, vielleicht sogar oft, an der Oberfläche, wie auch manches in den Kommentaren sehr allgemein bleibt, dennoch vergisst Timman dabei nicht, sich im entscheidenden Moment wieder auf das Wesentliche zu fokussieren.
Immer wieder flicht der Großmeister Hinweise zum praktischen Spiel ein. Wie man am besten in dieser Position auf die Zeitnot des Gegners spielt, warum es in einer anderen Position sinnvoll ist, nicht am Material zu kleben oder Fischer in einem Endspiel natürlich das Material für die Initiative links liegen lässt. Ebenso natürlich vollzieht sich der Lerneffekt beim Leser. Mit kleinen Winken versteht es Timman auch, das Besondere des Initiativ-Schachs, das damals in den frühen Sechzigern neu entdeckt wurde, quasi wie nebenbei und unprätentiös hervorzuheben. Vielleicht ist das Buch für manchen Schachhistoriker eine Enttäuschung, besonders dann, wenn profunde Enthüllungen erwartet werden. Aber profunde schachhistorische Werke werden ohnehin nur noch von Richard Forster geschrieben. Vielleicht sollte der Deutsche Historische Schachforschungsrat ihm ein Stipendium für die Karibik geben, damit das „Wahre“ Curaçao-Buch erscheinen kann mit einem Anmerkungsapparat wie eine Doktorarbeit. Vielleicht hat Forster aber auch gar keine Zeit.
Schachliebhaber, die sich besonders für die Praxis und die Geschichte des Schachs interessieren und auch mit einem allgemeinen Überblick zu den historischen Geschehnissen von damals zufrieden geben, werden das Buch schätzen. Doch ganz gleich, ob die Entscheidung für oder gegen das Buch ausfällt: Die Partien aus dieser Zeit sollte jeder Schachspieler mal nachgespielt haben.
Erschienen im Juni 2005 auf der Website des Berliner Schachverbands