Ein Zwischenspiel von Fernando Offermann
Erschienen in „Schach“, 3/2000
Ein fünfzigjähriger, pausbäckiger Radioreporter mit Fernsehmoderatorenjackett und Fernsehmoderatorbrille. Laute, aber professionelle Stimme.
Ein schlanker Journalist um die dreißig mit langen, lockigem Haar. Nickelbrille optional, aber ohne sichtliche Neigung, äußerlich erwachsen wirken zu wollen. Spricht zuweilen gedehnt.
Ein flinker, behender Student im 19. Semester Kommunikationswissenschaft, Modische Uhr, modische Jacke über Pullunder, englische Halbschuhe, Cargo-Hose, Routinier.
Bestgekleidetste Moderatorin in der 1999er-Leserbefragung der deutschen Ausgabe der Zeitschrift marie claire. Wird in Zukunft als höchstbezahlte neue deutsche Synchronstimme für die spanische Schauspielerin italienischer Abstammung Penélope Cruz vermarktet werden.
Beste Schachspielerin der Welt. Die Ungarin trägt ein venezianisches Strandkostüm. Das Lächeln spielt schnell in leichte Verlegenheitsgesten hinüber, ohne dabei hilflos zu erscheinen. Fast zwanzig.
Als Schachspielerin übersetzt die Amerikanerin ukrainischer Abstammung die englischen Kommentare von Judit Polgar. Im Trainingsanzug. Pferdeschwanz, um die fünfzehn.
Holländischer Schachgroßmeister. Spielt auf der Bühne mit perfekten, respektvollen, aseptischen Manieren. Wirkt leicht augenscheinlich nervös, ohne dies explizit schauspielerisch zu betonen. Um die dreißig. Anzug. Kaufmännischer Angestellter.
Fast vierzig. Erfahrenes Gesicht, warme Augen, kenntnisreiches Mienenspiel, das zurückhaltend das armenische Temperament verbirgt, das vielleicht verborgen liegt. Hellbrauner Pullover mit Rundsausschnitt über Tweedhose und geflochtenen Lederschuhen.
Zwei Krankenhauspfleger in weißer Arbeitskleidung. Emotionslos, aber professionell. Einer sieht aus wie ein Arzt, der andere wie ein leicht heruntergekommener Kulturjournalist.
– Ein Zwischenspiel –
Für Michael Dreyer, Stephan Kappus und das deutsche Magazin „Schach“
Hell. Stille.
SMBAT LPUTJAN zieht nach einer Minute langsam den Springer nach b3. Nach jedem Ziehen drücken die Spieler die Uhr und notieren ihren Zug. Keiner der beiden beachtet das Treiben um sie herum. Lediglich beim Nachdenken schweift selten ihr Blick absichtslos ins Publikum.
DER SPRECHER (einnehmend, aber schnell. Pointiert in der Art der Radioreporter, variiert im Tempo): Bleiben Sie dran, verehrte Damen und Herren. Diese letzte Partie der ersten Runde könnte sich noch entwickeln, denn bis hierher hat der Armenier für seine Verhältnisse un-ge-wöhn-lich viel Zeit verbraucht. Die niederländische Hoffnung aaaber spielt schnell und mit ausdruckslosem Gesicht.
Räuspertaste. DER ASSISTENT schiebt dem Sprecher einen Zettel zu. DER SPRECHER schielt kurz drauf und winkt keifend und etwas zischelnd ab. DER ASSISTENT ist sofort wieder eifrig am Blättern.
DER SPRECHER: Liebe Zuhörer, etwas mir Unverständliches bahnt sich an: Smbat Lputian wiederholt in einer der Positionen, die ihm am besten liegen, im 16. Zug nicht den Aufbau von Alexej Schirow in der 90er-Partie aus Groningen gegen eben diesen Jeroen Piket. Es scheint, als wirke Piket mit einem Mal konzentrierter. Lputjan spielt eben nach quälend langen zwanzig Minuten Springer b3, und wem fiele da nicht Kramniks Kommentar zu Karpow-Kasparow ein? Diese luzide Kritik, diese kurze und unscheinbare Benennung eines strategischen Fauxpas des, darf ich es wagen?, einstigen Strategen schlechthin?
STEFAN LÖFFLER hebt die Hand. DER SPRECHER hält inne. Räuspertaste.
DER SPRECHER: Ich will es kurz machen, verehrte Hörer. Im Presseraum sind wir uns einig: entweder hat Lputjan einen neuen Plan gefunden, und wir haben uns gerade verhoben, oder er möchte einer Idee Pikets ausweichen. Was meinen Sie, Herr Löffler?
STEFAN LÖFFLER: spricht lässig gedehnt, ohne ins Karikaturhafte zu verfassen und blickt durch die Sprecherkabine auf die Bühne, wo JEROEN PIKET am Zug sich nach vorn gebeugt in die Stellung vertieft. Ich danke Dir, Hans.
DER SPRECHER schielt instinktiv zur Räuspertaste. Hält sich aber zurück.
STEFAN LÖFFLER: hat nichts gesehen, spricht aber weiterhin gedehnt, allenfalls nachdenklich. Lputjan hat bei der letzten Europameisterschaft die Armenier zur Goldmedaille gespielt. Er hat im letzten Jahr das B-Turnier in Wijk gewonnen. Er kann aber nicht gegen stärkere Gegner spielen…
DER SPRECHER: Ist das denn nicht die Stellung, die Lputjan doch auch stilbildend mitgeprägt hat?…
DER SPRECHER sieht STEFAN LÖFFLER an. STEFAN LÖFFLER sieht auf den Tisch und dann noch einmal in den Spielsaal. DER SPRECHER lässt keine Pause entstehen.
DER SPRECHER. …Lputjan kennt die Stellung wie seine Westentasche. Ausbeute mindestens 70 Prozent, schätze ich mal. Ich würde auf eine 2:3-Chance mein Monatsgehalt verwetten, dass er die Partie nicht verliert. Nach Springer b3 ist es an Piket.
STEFAN LÖFFLER: Natürlich dürfen wir nicht wetten, auch wenn ich glaube, dass Lputjan eine realistische Chance hat zu verlieren.
Räuspertaste. DER SPRECHER packt zwei frische 500-Mark-Scheine auf den Tisch. STEFAN LÖFFLER sagt nichts.
DER SPRECHER: Ich erhalte gerade eine Nachricht von der Regie. Wir sind jetzt mit dem Internet Chess Club online verbunden. KRAMNIK meldet sich von den Malediven! Er würde die Wette halten!
Räuspertaste.
DER SPRECHER: Das war nur ein Witz, ha ha. Die Gäule gingen mit mir durch, meine Damen und Herren, natürlich denkt hier niemand ernsthaft ans Wetten.
Im Hintergrund analysiert KRAMNIK in kurzen Varianten den Moment in der erwähnten Stellung, als Alexej Schirow Jeroen Piket schon in der Eröffnung aus dem Sattel hob. Weder DER SPRECHER noch STEFAN LÖFFLER schenken dem Beachtung, denn JEROEN PIKET hat gerade gezogen.
DER SPRECHER etwas fahriger: Ja! Das ist es, meine Damen und Herren. Piket schlägt auf e4…
SMBAT LPUTJAN schlägt sofort zurück.
DER SPRECHER: …und ich sehe es voraus, (selbstverliebt) er wird auf den Mittelbauern gehen, denn á tempo schlägt Lputjan auf e4 zurück!
JEROEN PIKET will ziehen, setzt sich aber auf seine Hände.
DER SPRECHER (etwas lauter): Bahn frei! Ich habe es gewusst! Jetzt wird sich zeigen, ob Lputjans Plan aufgeht, denn Piket öffnet die Stellung, (stutzt) er öffnet eine Linie, er schlägt auf d5! Meine Güte, was macht der Lputjan das spannend, nicht wahr, Stefan Löffler?
STEFAN LÖFFLER zuckt die Schulter und hebt sich die langen Locken aus dem Gesicht, bevor er sich zum Mikrophon herabbeugt.
STEFAN LÖFFLER (gelassen): Sieht plausibel aus. Jetzt ist die c-Linie offen, denn Lputjan muss mit dem c-Bauern wiedernehmen.
SMBAT LPUTJAN nimmt mit dem Bauern auf d5 zurück. JEROEN PIKET gibt das Damenschach auf b6. KRAMNIK hat sofort eine Analyse via Internet übermittelt. STEFAN LÖFFLER hat sie jetzt bemerkt.
STEFAN LÖFFLER (unschuldig): Gleich müsste Läufer d7 folgen, weil nach sofortigem Springer g4 von Schwarz dann der verflachende Turmtausch auf der Grundlinie die schwarze Initiative trockenlegt. Piket könnte sonst nicht den Turm von a8 bei einem möglichen Tausch nach f8 als Nachschub für seine Aktivitäten am Königsflügel einsetzen.
DER ASSISTENT hat sofort alle Motive mit dem elektronischen Demonstrationsbrett nachvollzogen, und die Felder blinken und leuchten. Für wen, bleibt unklar. SMBAT LPUTJAN zieht König h1, aber diesen Zug hatten ohnehin alle erwartet.
DER SPRECHER (beeindruckt und zufrieden): Erwartungsgemäß zieht Weiß den König aus der Diagonalen nach h1. Vielen Dank, Stefan. Jetzt sind wir gespannt, ob Piket das auch so sieht.
DER SPRECHER schielt auf die Scheine auf dem Tisch. Räuspertaste. Zischelt dem Assistenten ins Ohr. DER ASSISTENT schlüpft lautlos aus dem Studio. STEFAN LÖFFLER verliert den Monitor aus den Augen. JEROEN PIKET zieht Läufer d7.
DER SPRECHER (weniger gehemmt, dennoch weiter das Tempo pointiert variierend): Löffler (singt beinahe) jaahaa! Meine Damen und Herren, wir können nun fünf Mark in unser Studioschwein stecken (geckenhaft), denn dieser Schachmeister an meiner Seite ist nicht nur ein erfolgreicher Schachjournalist, er ist auch (minimale Kunstpause) ein Könner am Brett!
Räuspertaste. DER ASSISTENT betritt das Studio mit einem Tablett Kaffeegedeck und stellt es auf die Scheine, die auf dem Tisch liegen.
DER SPRECHER: Ich habe es kommen sehen, meine Damen und Herren. Lputjan ist befangen. Es ist ganz deutlich. Er kann die Emotion eben doch nicht verbergen, ich habe es gewusst! Da läuft was schief, da läuft was verkehrt. So hat er sich das nicht vorgestellt, der gute Armenier. Diese Partie könnte ihm der Holländer noch ver-sal-zen!
SMBAT LUPTJAN zieht Springer a5. KRAMNIKS Analysen ebben ab mit dem Kommentar „Black has some initiative on the kingside, but somehow White can manage to hold the balance, just see the uncomfortable move bishop f3 for instance, if Black tries to start something like Knight g4. Not dangerous.” STEFAN LÖFFLER blättert in einer Illustrierten.
STEFAN LÖFFLER (beinahe unbeteiligt): Das könnte gut für Piket aussehen, wer weiß, was er jetzt zieht.
DER SPRECHER trank während der letzten Dialoge viel Kaffee und tippte am Telefon herum. JEROEN PIKET zieht Springer g4. DER SPRECHER bemerkt das und quasselt sofort los.
DER SPRECHER: Das sieht aus wie ein Angriff, meine Damen und Herren! Jawohl, ein Angriff! Piket greift an! Wissen Sie, wie Piket aussieht, meine Damen und Herren? (Wonnig) Wie ein Angreifer! ‚Das wäre doch gelacht!‘, scheint er zu denken…
SMBAT LPUTJAN erhebt sich kurz vom Tisch.
DER SPRECHER: …und Lputjan steht kurz auf. Warum? Woher soll ich das denn wissen?
DER SPRECHER stutzt und hat nicht bemerkt, dass das Tablett auf der Räuspertaste steht, doch die Übertragung läuft weiter. DER SPRECHER fährt fort, ohne lange Pause, denn nur Sekunden danach sitzt SMBAT LPUTJAN wieder am Tisch.
DER SPRECHER: Jetzt sitzt er wieder am Tisch. (Gespreizt) Ich fas-se-es-nicht. Da ist etwas nicht in Ordnung, Herr Lputjan! Der Armenier, der riecht Lunte, das sag‘ ich Ihnen! Der ist schlau, der Herr Lputjan, für so etwas hat er einen Sinn, für so einen Springerzug, für so eine Stellung, für so eine Strategie. Das hat er schon in New York gezeigt, 1997, was ihm das ausmacht! (Enthemmt, laut steigernd, doch ohne längere Pausen entstehen zu lassen) Nichts macht dem Herrn Lputjan das aus! (Beinahe außer sich) Aber auch gar nichts! (Fasst sich zusehends) Überhaupt nichts, (hat sich gefasst) stimmt’s Stefan?
STEFAN LÖFFLER (ungerührt): Hans, ich glaube, die Partie endet hier noch nicht.
DER ASSISTENT macht ein Zeichen. Der Sprecher nickt, der Assistent gibt der Regie ein Zeichen. Sparkassenwerbung.
Ab: DER ASSISTENT
DER SPRECHER und STEFAN LÖFFLER gestikulieren in der Sprecherkabine pantomimisch und irgendwie feindselig, ohne auf das Treiben der Schachspieler auf der Bühne zu achten. Auf der Bühne tauscht JEROEN PIKET á tempo ein Turmpaar auf f1. SMBAT LPUTJAN nimmt sofort mit dem Läufer zurück, und als JEROEN PIKET den zweiten Turm auf f8 nachzieht, rückt SMBAT LPUTJAN den Läufer arglos nach g5.
Dunkel. Musik. Dämmer.
Sanfter Blendendimmer auf JUDIT POLGAR und IRINA KRUSH am Bühnenhintergrund, die zuvor im Dunkeln unauffällig postiert waren. Die beiden Statisten unterhalten sich unhörbar miteinander, wobei sie für Nordwesteuropäer ungewohnt, aber nicht übertrieben, sondern beinahe musikalisch in italienischer Art gestikulieren.
Nebenan verschluckt der amerikanische Kommentator SEIRAWAN sich an der Cherry-Coke, als er Läufer g5 bemerkt, und als JEROEN PIKET mit dem Springer auf f2 Schach bietet, bekommt SMBAT LUPTJAN gewaltig rote Ohren.
Auftritt: DER ASSISTENT
DER ASSISTENT gibt ein Zeichen. DER SPRECHER blickt auf das Geschehen und wirkt auf eine verklärte Weise erheitert. Beim Sprechen stellt er einen Scheck aus.
DER SPRECHER: (wie auf Knopfdruck ganz gefasst und nur leicht überspannt) Wer hätte das gedacht, meine Damen und Herren? Ich habe recht behalten mit meiner Voraussage, die Partie würde käm-pfe-risch werden. Jawohl, denn Piket ist im Vorteil. Jetzt hat der Holländer es geschafft. Jetzt hat er ihm die Hosen stramm gezogen, dem Armenier. Jetzt kann nur noch einer helfen: der Arzt.
Dunkel. Musik. Dämmer.
Auf der Bühne folgt alles einem uhrengleichen Rhythmus. Ein Reigen mit Musik. Gleichmäßiges Figurenziehen bis zum Schluss, als sich die Spieler die Hände schütteln, nachdem SMBAT LPUTJAN die Uhr angehalten hat als Zeichen der Kapitulation. JEROEN PIKET nimmt dessen ausgestreckte Hand ohne sichtbare Emotion entgegen und verbeugt sich leicht. Danach gehen beide Spieler ab. ZUSCHAUER applaudieren im Parkett. Warnton aus dem Lautsprecher.
Dunkel. Musik. Hell.
Auftritt: DIE PFLEGER
DIE PFLEGER nehmen DEN SPRECHER und stecken ihn in eine Zwangsjacke. STEFAN LÖFFLER kann die Kabine unbeschadet verlassen.
Ab: DIE PFLEGER, DER SPRECHER, STEFAN LÖFFLER.
Auftritt: DIE SPRECHERIN.
DIE SPRECHERIN: (Mit professioneller, gewinnender Sprachmelodie ohne Singsang) Verehrte Hörer, wir hoffen, dass Sie unser technischer Zwischenfall nicht bei der Übertragung der wohl besten Partie dieses neuen Jahres gestört hat. Für die Königsindisch-Theoretiker blieb die Frage nach der schwarzen Antwort auf den Schirow-Plan heute zwar unbeantwortet, doch ich bin mir sicher, sie wird es nicht mehr allzulange bleiben. Wir bedanken uns bei der spontan eingesprungenen Judit Polgar und ihrer Übersetzerin Irina Krush. Ferner danken wir den Sponsoren des traditionsstärksten Schachturniers der Welt aus dem holländischen Wijk aan Zee.
Dunkel.
Auftritt: DER ASSISTENT
DER ASSISTENT schaltet im Dämmerlicht des „Exit“-Schildes und der Monitore die Geräte aus. Bevor er den Monitor mit den Analysen von Kramnik abschaltet, nimmt er das Tablett, die beiden 500-Mark-Scheine und den Scheck mit.
Dunkel. Vorhang.
— Ein Zwischenspiel —
Leicht gekürzte Fassung. Das Original ist erschienen in „Schach“ 3/2000.
Der Autor ist unschuldig und verarbeitet nur seinen Traum von einer Live-Übertragung durch einen deutschsprachigen Radiosender. Während das Turnier noch läuft, ist diese groteske Etüde entstanden. Wohl wissend, dass weder Wladimir Kramnik diese Analysen beigesteuert hätte, geschweige denn Jeroen Piket, Smbat Lputjan, Irina Krush oder Judit Polgar oder auch Stefan Löffler in einen realen Zusammenhang mit dieser Farce zu bringen wären. Wladimir Kramnik weilte auch nicht während des Turniers auf den Malediwen, sondern wurde Zweiter hinter Garri Kasparow.
Berlin, 25. Januar 2000