Spieler blocken – die digitale Löschtaste
Lichess hat kürzlich eine neue Schach-App herausgebracht. Sie sieht modern aus, hat ein frisches Design und läuft flüssig. Doch als ich sie ausprobierte, bemerkte ich, dass eine Funktion fehlte: die Blockierfunktion. Diese scheinbar kleine Auslassung brachte mich zum Nachdenken – darüber, wie viel mir diese Funktion überhaupt bedeutet.
Warum Blockieren in Online-Schach so wichtig ist
Das Blockieren ist für mich die letzte Bastion der Selbstbestimmung. Ein Schutz vor jenen Situationen, in denen ich mich ohnmächtig fühle. Es geht nicht immer um offene Beleidigungen oder um Cheating, das so offensichtlich ist, dass es von Moderatoren erkannt und geahndet wird. Oft ist es viel subtiler: ein Gefühl, dass der Gegner nicht selbstständig spielt. Dass seine Züge zu glatt sind, zu sauber. Dass die Taktung im Rhythmus der Züge zu gleichmäßig ist, egal, ob die Züge leicht oder schwer sind. Dass die Zeit möglicherweise manipuliert wird (Ping Abuse), oder dass mein Gegner nach brillantem Spiel in den ersten 50 Sekunden beim Bullet plötzlich in den letzten Sekunden mit dem Hirnstamm zu absurd schlechten Zügen im Premove-Modus greift, wo selbst Spieler mit 1800 statt seinen vermuteten 3000 zu sinnvolleren Instinkt- und Impuls-Zügen neigen würden.
Invasion der Bots
Hinzu kommt die Vorstellung einer massenhaften Invasion der Bots – einer konzertierten Aktion, die den integren Ruf des Servers angreift. So wie bezahlte Meinungen und Bewertungen beim sogenannten → Online Reputation Management. Nach dem, was wir über die Manipulationen durch KI-Bots in den Präsidentschaftswahlen 2016 wissen oder über die heutigen Einflussnahmen in sozialen Medien, wie sie etwa in → Putins Gift: Russlands Angriff auf Europas Freiheit beschrieben werden (Herder Verlag, 2024), sind solche Szenarien längst keine Fiktion mehr. Wem solche Aktionen nützen könnten? Diese Frage bleibt offen – und bietet Raum für Vermutungen.
Solche Vorfälle werfen die Frage auf, ob wir es hier noch mit Schach zu tun haben oder mit einem verzerrten Abbild davon. Vielleicht ist es Paranoia.
Gummizelle Shadowbanning
Ein IM – Titelträger müssen sich namentlich bei Lichess.org registrieren – dachte sich einmal etwas sehr Beleidigendes über meine Herkunft und meinen Charakter aus, nur weil ich ihm nach seiner Niederlage keine Revanche gegeben hatte. Ich habe das in Deutschland zur Anzeige gebracht, aber das Verfahren wurde eingestellt. Der IM spielt dort immer noch. Auf Plattformen wie Lichess gibt es außerdem den Akt des Shadowbannings. Das ist dann wie in einer Gummizelle. Derjenige kann zwar tippen, aber niemand sieht, was er schreibt. Ich finde das unmenschlich. Dann lieber gleich verbannen.
Blockieren ist für mich ein besserer Weg. Es ist ehrlich, direkt und respektiert die Autonomie aller Beteiligten. Ich bin kein Freund von Cancel Culture oder Ghosting, aber im Online-Schach geht es um die Wertschätzung des Schachs und nicht zuletzt um das mentale Wohlbefinden. Wenn ich jemanden blockiere, geht sein Leben normal weiter. Es ist mir bewusst, dass es die betreffende Person vermutlich nicht juckt und ihr das wahrscheinlich völlig egal ist. Und dennoch fühlt es sich an wie die richtige Entscheidung. Blockieren ist mein Weg, diese Grenze zu setzen, ohne dass es zu einer Eskalation kommt. Es geht nicht darum, den anderen zu bestrafen – es geht um den Erhalt meiner eigenen Integrität und des Spiels als solches.
Die Worte, die der IM damals wählte, brannten sich ein – nicht nur wegen ihrer Grausamkeit, sondern auch wegen der Tatsache, dass ein Titelträger, jemand, der in der Schachwelt für seine Professionalität stehen sollte, solche Worte wählte. Mit Menschen, die diese Haltung an den Tag legen, wird die Welt nicht gerettet werden können. Das Blockieren hilft mir, mich von solchen Menschen zu distanzieren, ohne dass es zu einer Eskalation kommt.
London? Gleich mal blocken
Nicht nur toxisches Verhalten oder Cheating können Gründe sein, einen Spieler zu blockieren. IM Lukas Winterberg, bekannt aus seinen humorvollen Tilt-Streams auf Twitch, hatte regelmäßig Spieler blockiert, die mit abgedroschenen Systemen wie dem Londoner System antraten. Nicht aus Wut oder Rache, sondern als klare Haltung: Schach ist für ihn mehr als das bloße Abspulen von Routine. Diese Entscheidung mag eigenwillig wirken, doch sie zeugt von einer konsequenten Einstellung, das Spiel als kreativen Austausch zu betrachten – und sich von dem zu distanzieren, was für ihn nicht mehr dazugehört.
Lagger dürfen nicht mitspielen
Nicht nur Winterberg hat eine konsequente Blockstrategie. Der deutsche Streamer „Fritzi“, bekannt für sein entschlossenes Auftreten in der Online-Schachwelt, blockierte rigoros Spieler mit schlechtem Internet oder diejenigen, die ihm besonders hart zusetzten. Eine ungewöhnliche Haltung, die jedoch ein weiteres Beispiel dafür ist, wie Spieler Blockieren nicht nur als Schutz, sondern auch als Mittel zur Wahrung ihrer persönlichen Spielerfahrung einsetzen.
Ob die Ratingpunkte zurückerstattet werden oder nicht, sollte dabei zweitrangig sein. Manchmal habe ich sogar Cheater gemeldet, obwohl die Partie gewonnen wurde – sei es, weil der vermeintliche Betrüger über die Zeit gezogen wurde oder weil der Verdacht überbordend wurde, weil in den letzten 10 oder 15 Sekunden beim Bullet die Entscheidung auf absurd schlechte Züge gefallen war, die die Ahnungslosigkeit des Betreffenden zeigte. Ein guter Spieler lässt selbst in den letzten Sekunden Verständnis erkennen, und fünfzehn Sekunden sind für solche Leute eine Ewigkeit.
Besitzstandswahrungsmentalität als Falle
Manche cheaten aus einem anderen Grund: Sie betrachten ihre Rating als Aushängeschild ihres Selbstwerts. Doch genau das ist eine gefährliche Falle – eine, in die nicht nur Hobbyspieler, sondern auch junge Talente wie Hans Niemann getappt sind, der als Jugendlicher nach eigenem Eingeständnis schummelte, um sein Standing und sein Twitch-Konto mit einer polierten Rating aufzuwerten. Diese Besitzstandswahrungsmentalität, die sich darauf konzentriert, bestehende Zahlen um jeden Preis zu sichern, verhindert, dass Spieler wirklich wachsen und sich verbessern. Statt mutig gegen starke Gegner anzutreten, verkrampfen sich manche darauf, ihre Zahlen zu verteidigen – ein Verhalten, das nicht nur die Freude am Spiel trübt, sondern auch dem Geist des Schachs widerspricht.
Eine hohe Rating sollte nicht der Selbstbestätigung dienen, sondern der Möglichkeit, auf starke Gegner zu treffen. Für die besten Spieler ist eine erstklassige Gegnerschaft das Interessanteste – eine Herausforderung, die reizt und wachsen lässt. Der ehrliche, harte Kampf gegen einen starken Gegner ist die Essenz des Spiels, auch wenn die Aussicht auf eine Niederlage hoch ist. Schließlich lernt man am meisten aus solchen Begegnungen, nicht aus einfachen Siegen.
Die digitale Löschtaste
Wenn ich jemanden blockiere, bedeutet das: „Nie wieder!“ Eine klare, ruhige Aussage. Es erinnert mich an meine Kinder, die mich manchmal fragten: „Nie wieder?“ – sei es nach einem Verbot oder einem Streit, in dem man sich im Zorn sagte: „Ich will dich nie wieder sehen!“ In der realen Welt meinen wir das selten so. Aber digital, in diesen kleinen Momenten der Selbstbestimmung, ist Blockieren eine Art, das doch zu meinen – konsequent und ohne Nachspiel.
Was für eine Befreiung! Nie wieder. Faszinierend. Es ist, als würde man jemanden in den Weltraum schießen, wo Worte und Taten ins Nichts verblassen, wo nichts zurückkommt und auch nichts mehr stört. Blockieren ist ein leiser Akt, fast wie das Schließen einer Tür, die keinen Spalt mehr offenlässt – kein Geräusch, kein Schatten dringt mehr durch. Es ist eine digitale Form der Entlastung, wie ein tiefes Durchatmen nach einem aufreibenden Gespräch, das kein Ende finden wollte.
Dieses „Nie wieder“ hat etwas Endgültiges, aber auch etwas Beruhigendes. Anders als im realen Leben, wo Konflikte oft weiter schwelen, wo Missverständnisse sich aufschichten, ist Blockieren eine klare und einfache Geste. Es beendet etwas ohne Drama, ohne weitere Diskussion. Es ist, als würde man eine Grenze ziehen, die nicht überschritten werden kann, und dadurch einen Raum schaffen, in dem wieder Ruhe herrscht.
Gewaltfreie Kommunikation
Blockieren mag kleinlich erscheinen, ist aber ein Akt der Selbstbestimmung. Es bietet die Möglichkeit, in einem digitalen Raum, der sich oft unkontrollierbar anfühlt, klare Regeln für sich selbst zu setzen. Es ist ein Werkzeug, das still und effizient funktioniert, ohne anderen Schaden zuzufügen. Und genau das macht es so wertvoll – für die eigene Erfahrung und für die Integrität des Spiels.
Nur mein Instinkt gibt mir einen Indikator dafür, ob es sich um einen Cheater handelt. Selbstgerecht oder nicht, manchmal bleibt nichts anderes als die Entscheidung, Konsequenzen zu ziehen – für den eigenen Schutz und die Freude am Spiel.
1 Responses to Spieler blocken – die digitale Löschtaste
Mein Lieblingskommentar kam von einem Freund, der schrieb:
„Ja interessantes Thema. Geht wegen der LLMs, Socialmediabots und gezieltem Targeting + Biasforschung auch weit über Onlineschach hinaus. Reicht selektive Ignoranz als psychologischer Sicherheitswall gegen selbstoptimierende Plausibilitätsgeneratoren ;)? Was zählt wenn das erste Opfer des Krieges längst begraben ist?“