Vier Kombattanten
Tal, Petrosjan, Spasski und Kortschnoj: Andrew Soltis erzählt von der großen Zeit des sowjetischen Nachkriegsschachs
Andrew Soltis: Tal, Petrosian, Spassky and Korchnoi – A Chess Multibiography with 207 Games. 380 S., McFarland 2019.
Vor zwanzig Jahren hatte der Großmeister und Autor Andrew Soltis „Soviet Chess 1917-1991“ veröffentlicht. Es ist ein umfangreiches und gutes Buch. Soltis bemerkte jedoch beim Schreiben: Michail Tal, Viktor Kortschnoj, Tigran Petrosjan und Boris Spasski hatten im Verbund das Schach in ihrer Heimat derart nach vorn getrieben, wie es seitdem nicht wieder geschehen ist. Die vier Ausnahmespieler hatten Gemeinsamkeiten in ihrer Lebensgeschichte, durch die sie ihr Leben lang verbunden waren, und trotz Rivalitäten und Reibereien waren sie Schicksalsgenossen – so unterschiedlich ihre Temperamente und Stile auch waren.
Eigentlich hatte Soltis lange seinen Ruhestand angekündigt, und vor drei Jahren sollte es endlich so weit sein, aber dieses Buch hat er zum Glück noch veröffentlicht. Kaum ein anderer Autor kann wie er mit erzählerischen Mitteln das vergangene Zeitalter des sowjetischen Nachkriegsschachs aufleben lassen, und nun liegt das Buch vor, das er eigentlich vor zwanzig Jahren schreiben wollte, aber das ging damals noch nicht, denn das Quellenmaterial hatte damals noch nicht vorgelegen und tauchte erst nach und nach auf.
Jeder kennt die Partien, aber bislang war sehr wenig über das Leben dieser vier Größen bekannt, was vor allem an erst in letzter Zeit veröffentlichten Quellenmaterial lag. Über Tals Abstammung wird vieles nur unzureichend kolportiert. Auch, wie Petrosjans Ehe zustande kam und wie seine Frau ihn beeinflusste, ist in Details nur wenig bekannt gewesen. Kortschnoj und Spasski wären in ihrer Kindheit fast verhungert, auch war es für den jungen Viktor nicht unerheblich, dass sein Vater zur Hälfte jüdischer Herkunft war, auch wenn er selbst katholisch erzogen wurde. Insbesondere in der Sowjetunion unter Stalin war dies von entscheidender Bedeutung. Von Vertreibung jüdischer Russen ist die Rede, von Repressalien, von Willkürjustiz und Verbannung.
Dies ist aber kein Band für Historiker, sondern ein Buch für Leser. Es ist für jene, die ergründen möchten, warum ausgerechnet diese vier Ausnahmeprofis das Schach so bestimmt haben, und was sie von Kholmov, Geller und Stein unterschied und weshalb ausgerechnet sie später den Erfolg hatten. Vor allem profitieren von der Lektüre jene, die diese Zeit vornehmlich aus der Perspektive des Aufstiegs Bobby Fischers in den Schacholymp kennen. Dieses Buch erzählt von der Gegenperspektive. Für Fischer waren alles Russen, egal ob Este, Ukrainer, Georgier oder Armenier, und nicht nur Fischer hatte diesen Tunnelblick.
Soltis macht die Geschichte lebendig, und das ist nicht einfach nur so dahingesagt. Wir erfahren die Bedeutung der Karrieren für das Überleben, wir erfahren, dass Kortschnoj beschloss, Schachprofi zu werden, als es in Russland erst einen Profi gab: Botwinnik. Wir erleben die Demütigung, die Petrosjan auf sich genommen hatte, als er, bettelarm, in den Umkleidekabinen von Spartak den Boden wischen und dort auch mangels eigener Wohnung übernachten musste. Selbst noch als Spieler der ersten Mannschaft. Und was es für ihn fast mittellosen Jungen bedeutete, erstmals zum Schachtraining gehen zu dürfen. Es war eine Zeit in der Sowjetunion, in der sich sogar weltberühmte Großmeister mitsamt ihrer Familien mit weniger als zwanzig Quadratmetern Wohnfläche begnügen mussten.
So verstehen wir, was Petrosjan als Weltmeister die Rückkehr zu den Orten der Armut bedeutete. Wir erfahren, wie Petrosjans Ehefrau die Fäden im gesellschaftlichen Leben der besten Spieler des Landes zog und dafür sorgte, dass ihr Tigranshik Weltmeister wird. Dann verstehen wir auch, welchen Affront es bedeutete, als Fischer sie wegen anhaltenden Quasselns aus dem Zuschauerraum entfernen ließ. Und weshalb Petrosjan fortan nie wieder mit „Bobika“ sprach. Und wir erfahren, wie es dazu kam, dass Kortschnoj in seiner Heimat den Beinamen „Böser Viktor“ erhielt, aber auch, weshalb er so eine gute Punktausbeute gegen Tal hatte. Kortschnoj musste wie auch Petrosjan oder Spasski als Kind ums Überleben kämpfen. Mit elf Jahren zog er den Leichnam seiner Großmutter über mehr als eine Meile mit dem Schlitten durch das eisige Leningrad, um sie zu begraben. Welcher Großmeister der heutigen Zeit hat schon Vergleichbares erlebt?
Das Buch erklärt zudem, dass das Image des „Eisernen Tigrans“ zum Teil auch einem Mythos gleichkam, denn offenbar war Tigran gar nicht so eisern. Der Armenier hatte häufig Mühe, sein aufwallendes Temperament während der Partie zu zügeln und auch Angst am Brett war ihm vertraut. Stabsärzte empfahlen dem Weltmeister, sich von Aufregungen jeder Art fernzuhalten. Die Sorge der Mediziner teilte Petrosjan indes nicht: „Don’t get excited! It’s easy to say. But what’s the point of life then? What do I get out of it? What does life give me then?“
Tigranshik wollte das Leben genießen. Er liebte die guten Dinge und kehrte in den Sechzigern einmal mit einer Schallplatte der Beatles aus Europa heim. „Listen, son. This is good music.“ So einen Vater gehabt zu haben – das war nicht nur in der Sowjetunion sicher etwas Besonderes.
Soltis’ Buch hilft, die Zusammenhänge im Leben der vier Kombattanten zu verstehen. Jeder kennt die Semi-Tarrasch-Partie Polugajewski-Tal von der 37. UdSSR-Meisterschaft, eine der zentralen Partien in Polugajewskis Karriere, aber kaum jemand weiß, dass sich Tal damals auf dem Tiefpunkt seines ohnehin schon miserablen Gesundheitszustandes befand. Die Menschen erschraken bei seinem Anblick, bereits zwei Jahre zuvor hätte seine verrottete Niere entfernt werden müssen.
Tal wurde allgemein als umgänglicher und charmanter Zeitgenosse wahrgenommen. Soltis gibt uns aber anhand der Erinnerungen seiner ersten Frau Sally Landau eine weitere Perspektive auf die schillernde Persönlichkeit und zeigt, wie sehr sich Tal bei alltäglichen Problemen auf seine Umgebung verließ. Er verlangte von seiner Familie, dass diese sich seinem Status als Schachprofi unterordnete und eine Umgebung für ihn richtete, damit er jener Tal sein konnte, den alle so mochten. Mischa erwartete von den seinen, insbesondere von den Frauen, dass sie ihre Interessen und Karrieren bedingungslos unterordnen, damit er es gut hat. Mit allem anderen war Tal durchaus großzügig, aber dass seine Frau ihre erfolgreiche Bühnenkarriere für ihn aufgeben sollte, war für ihn und seine Familie keine ungewöhnliche Forderung.
Amüsant ist es demgegenüber zu lesen, wie zerstreut Mischa in organisatorischen Belangen der Lebensführung war und wie oft er seine Umgebung mit einer Mischung aus Chaos und Unbekümmertheit zur Verzweiflung brachte.
Im Frühling 1970 machten sich Petrosjan (1. Brett) Kortschnoj (2. Brett) und Tal (Brett 7) nach Österreich auf, um dort die Mannschafts-EM zu spielen (und siegten mit 11,5 Punkten Vorsprung vor den Ungarn).
And again there was a Tal problem. He lost his airplane ticket home. A search of his room found nothing. But teammate Paul Keres was a veteran of Tal crises. „You have to look under the writing table in the waste paper basket“, he said. Sure enouh, there, along with the other pieces of discarded paper, was the missing ticket. Tal was always losing valuables.
On another occasion, the team members were already aboard a plane when their leader, Alexander Kotov, asked for passports. Tal was the only one who could not find his. „Why is there always a problem with you?“ Kotov exclaimed. „Look, my passport is always in its place.“ Then he reached into his pocket and pulled out a passport. But it was Tal’s. Kotov’s passport was found in the lining of Tal’s raincoat. And no one could figure out how that happened.
Gibt es eigentlich gesammelte WM-Berichte Tals? Er bekam einmal als Berichterstatter während des WM-Kampfes Petrosjan-Spasski zu seinem Entzücken zwei Protest-Zuschriften. In einem Brief wurde er bezichtigt, oft zugunsten Petrosjans zu kommentieren. In der anderen Zuschrift wurde ihm vorgeworfen, er sei ja wohl eindeutig auf Seiten Spasskis. Als Botwinnik gefragt wurde, wer aus seiner Sicht der objektivste WM-Berichterstatter sei, sagte Michail Moissejewitsch: „Tal.“
Großmeister Soltis ist stark und kompetent genug, um die Finessen am Brett zu erklären und zeigt, was Tal für Schwierigkeiten am Brett gegen Kortschnoj erlebte. Auch Keres war von Tal nicht einfach zu überrumpeln. Soltis hat sehr viele unterschiedliche Bücher geschrieben. Manche richten sich eher an jene, die erst kurz den Anfänger-Status hinter sich gelassen haben, aber vor allem jene Titel der letzten Jahre sind immer besser geworden. Vor allem Titel wie „Bobby Fischer rediscovered“, „Why Lasker matters“, „Your Kingdom for my Horse“ (über den Figurentausch) und „Rethinking the Chess Pieces“ haben die vermittelnde Kompetenz von Soltis demonstriert. Sehr zu empfehlen ist für Spieler unter DWZ 2100 auch „100 Chess Master Trade Secrets“.
In der vorliegenden Viererbiographie finden sich 207 Partien und Fragmente, und es handelt sich dabei nicht um das prominente Material – die bunten Hunde bleiben zumeist lediglich erwähnt. Vielmehr hebt Soltis die Partien hervor, die etwas Spezifisches erklären. Allerdings ist es beim Lesen fast unmöglich, sich nicht gleich auch noch jene prominenten, lediglich erwähnten Partien in der Datenbank aufzurufen und nachzuspielen.
Dramaturgischer Höhepunkt der Erzählung ist eindeutig der WM-Kampf ’72 in Reykjavík. Allerdings wird klar, dass bereits beim Kampf UdSSR gegen den Rest der Welt bei den Sowjets so manches unrund läuft. In Belgrad im Jahr 1970 liegen die Nerven der Sowjets blank. Die Hälfte der Spieler grüßt einander nicht. Geller und Petrosjan sind inzwischen verfeindet, Kortschnoj hat sich mit so gut wie jedem Kollegen angelegt, und er versucht, mit dem Eintritt in die Kommunistische Partei sein Leben als Schachprofi zu erleichtern. Tal wird durch permanente gesundheitliche Krisen immer wieder zurückgeworfen – und Spasski? „He reigned but he did not rule.“ Immerhin wendet sich Weltmeister Spasski couragiert gegen die Funktionäre, deren befohlene Mannschaftsaufstellung die Moral des Teams sprengt. Aber Spasskis Vermittlungsversuche bleiben folgenlos. Botwinnik ist außer sich, weil er an Brett acht spielen soll. Einzig Tal nimmt seine Aufstellung am neunten Brett gelassen hin.
Eindringlich gelingt die Schilderung der Rebellion Spasskis gegen die autokratische Obrigkeit. Der Weltmeister sperrt sich auch gegen die kumpelhaften Avancen des leitenden Schachfunktionärs der Sowjetunion. KGB-Oberst Viktor Baturinski, oder der “Schachführer”, wie Spasski ihn nennt, bot das freundschaftliche Du an. Doch Spasski bat darum, von Vertraulichkeiten Abstand zu halten. Die Konflikte um die vielen Zurechtweisungen, Reisebeschränkungen und Bevormundungen hatten den ohnehin phlegmatischen Champion demotiviert. Selbst der WM-Titel konnte ihm nicht das Maß an Freiheiten verschaffen, das er sich so ersehnte.
So wie Soltis es erzählt, verkörpert das Quartett die vier Temperamente: Kortschnoj der Choleriker, Tal, der Sanguiniker, der Phlegmatiker Petrosjan und der melancholische Spasski. Nicht viele werden gewusst haben, wie sehr Borya Wassiljewitsch zum Trübsal neigte. Als Bondarewski ihm nach dem Titelgewinn zu motivieren versuchte und sagte: „Now you can arrange your own life: enter the Party, become editor in chief of 64, travel to the Damansky Peninsula.“ (Spasskis Lieblingsferieninsel an der Grenze zu China.) „No“, entgegnete Spasski seinem Trainer. „That’s not for me.“
Aber es wäre falsch, diese vier Ausnahmespieler auf diese Klischees zu reduzieren, und wir erfahren auch, wie das Quartett voneinander lernte, die Eigenschaften des Anderen übernahm, wegen der Rivalität und Konkurrenz in der Gemeinschaft stärker wurde und wie ambivalent das Verhältnis der Vier zueinander blieb. Spasski sagte über Kortschnoj, er stelle die Figuren anfangs alle falsch auf und korrigiere dies im Laufe des Spiels, das sei halt sein Stil. Kortschnoj hingegen behauptete, Petrosjan und Spasski könnten ihn nicht leiden, weil er die Turniere gewinnen würde, bei denen auch diese als Weltmeister teilgenommen hatten. Soltis bemerkt allerdings dazu, dass die Turnierergebnisse wohl anders aussahen.
Dieses Buch verdichtet die Geschichte des sowjetischen Nachkriegsschachs auf die Geschichte dieser vier Spieler. Es gab wohl kaum eine vergleichbare Zeit. Im Kleinen erleben wir so etwas gerade in Saint Louis dank der Großzügigkeit des einflussreichsten Schachsponsors der Gegenwart. Aber so löblich und reichhaltig die finanziellen Aktivitäten von Rex Sinquefield sind, der Vergleich hinkt selbstverständlich, denn die Entwicklung in der Sowjetunion war von der Lebensgeschichte geprägt, vom Leiden, vom Kämpfen und vom Durchsetzen in einem Umfeld, das mit heutigen Verhältnissen nicht zu vergleichen ist.
Es ließe sich noch weitaus mehr über dieses Buch berichten, das vielleicht das beste Buch unter den rund fünfzig Titeln dieses Autors ist. Um ihn besser kennenzulernen, empfiehlt sich ein einstündiges Interview, das in einer Podcast-Serie anzuhören ist, wobei er über die Freuden und Leiden des Publizierens, seine Zeit mit Bobby Fischer, seine Haltung zur Elo-Inflation und vielerlei andere Themen spricht – eine anregende Plauderei.
Leider ist dieser Band nicht günstig und kostet mehr als sechzig Euro. Doch Schachbücher dieser Art werden nur selten veröffentlicht. Es wäre schön, wenn die Berliner Landesbibliothek diesen Titel in Ihre Sammlung aufnehmen könnte.
Andrew Soltis:Tal, Petrosian, Spassky and Korchnoi: A Chess Multibiography with 207 Games. Mc Farland, Jefferson, North Carolina, 2019. 394 Seiten, ca. 62 Euro
Erschienen am 22. Oktober 2019 auf dem Portal des Berliner Schachverbands
Erster Nachtrag (31.10.2020) – Auf Twitter gefunden:
Here's another excellent find in the Swiss Federal Archives: a clip from the 18th Chess Olympiad in Lugano focused on the Soviets (Petrosian, Geller, Korchnoi, Smyslov, Polugaevsky, and Spassky). They won the event at ease, 8½ points ahead of Yugoslavia. https://t.co/8IxCtg2Vgt pic.twitter.com/Nag8rT1WJs
— Olimpiu Di Luppi (@olimpiuurcan) August 27, 2020